Traube Neukirch

Aus Wiki-Egnach

Die Wirtschaft an der Kreuzung

Seit alten Zeiten stand an der Landstrasse nach Arbon ein Bauernhof mit Bäckerei „bey der neuen Kirchen“. Ein Brotaustrager brachte die Frischware in die umliegenden Weiler zum Verkauf. Der Bäcker betrieb nebenbei auch eine Wirtschaft, und die neue evangelische Kirche brachte ihm viele Gäste die sich vor oder nach den Gottesdiensten einen Trunk oder eine Mahlzeit genehmigen mochten. 1746 kaufte Hans Ulrich Holzer aus Ringenzeichen den Betrieb. Sein Schwiegersohn, Johann Ulrich Stacher lernte bei ihm das Bäckerhandwerk und übernahm später den Betrieb. Stacher war dynamisch, klug, fleissig, also der ideale Unternehmertyp.

Plan Kreuzung Neukirch

Johann Ulrich Stacher

Stacher war ein „Hansdampf in allen Gassen“. Nebst Brot backen kaufte er von den Egnacher Webern die Leinenstoffe und lieferte sie mit gutem Gewinn weiter. In der Wirtschaft bediente er die Gäste und erfuhr als erster all die Neuigkeiten. Das verleitete ihn zum Liegenschaftenhandel. In dieser Zeit standen viele Bauernhöfe zum Verkauf und verfielen der Spekulation. Stacher kaufte und verkaufte und wurde bald zu einem der reichsten Männer der Gemeinde. Ein Betrugsfall brachte ihn 1804 ins Zuchthaus, aber danach führte er seine riskanten Geschäfte weiter.

Neubau der Traube

Das Wirtshaus war längst zu klein; die kirchlichen Feiern wie Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen verlangten nach einem grösseren Lokal. Stacher liess das Haus abreissen und ein dreistöckiges erbauen, wie es heute dasteht. Mit dem „Ochsen“ in Arbon und der „Traube“ in Roggwil gehörte es zu den grössten Gebäuden im Oberthurgau. Im Nebengebäude war Platz für Hotelzimmer, und der Stall bot Platz für 30 Pferde.

Die Blase platzt

Mit dem Hof Mosershaus kaufte Stacher den ganzen Westen des Dorfes Neukirch, konnte aber nur mit Mühe eine Anzahlung aufbringen. Er musste die Traube verkaufen, riss sich aber bereits Wirtschaft und Metzgerei „Schäfli“ unter den Nagel, wo er fortan wohnte. Bald wechselte er auf Schloss Gristen und am Schluss nach Frasnacht, wo er die Krone anzündete und das Assekuranzgeld kassieren wollte. Man kam ihm auf die Schliche, und er wurde nach Frauenfeld vor Gericht geführt. Unterwegs türmte er und stürzte sich in die Fluten der Thur, wo er ertrank.

Ein neuer Traubenwirt

Samuel Amsler aus Schinznach erwarb 1817 die Traube von Ulrich Stacher. Dazu gehörte eine Scheune, ein Wasch- und ein Hühnerhaus sowie ein Brunnen. Bedeutsam waren die Liegenschaften im Umfang von 24 Hektaren Weide- Ackerland und Wald. Zur Traube gehörte weiter die Tavernen- und Bäckerei-Gerechtigkeit, eine besondere Bewilligung der Regierung.

Die Traube bot drei Gaststuben an. In der ersten standen 5 harthölzerne Tische mit 15 Sesseln. In der 2. Gaststube waren drei Tische und 12 Stühle oder Stabellen. Im grossen Saal konnten 6 Tische mit 50 Strohgeflechtstühlen die Gäste aufnehmen.

Die Tavernen- und Bäckereigerechtigkeit gehören zu den sog. Ehehaften. Das sind besondere Rechte, um ein bestimmtes Gewerbe zu betreiben. Zum Tavernenrecht gehört das öffentliche Schankrecht, das Herbergs- und Gastrecht, die Fremdinstallung von Pferden (die Traube kann 30 Pferde unterbringen) sowie das Recht für Verlöbnisfeiern, Hoch-zeiten, Stuhl- und Taufmähler auszurichten. Der Wirt darf Branntwein und Wein ausschenken.

Ein Mittagessen bei Amsler kostete 9 Kreuzer und die Halbpension 18 Kreuzer. Georg Züllig zahlte 1827 bei seiner Hochzeit für 82 Gäste je 1 Gulden 48 Kreuzer für Essen und Götikofer Wein.

Zusätzlich eine Metzgerei

Amsler war ein schlechter Bäcker, aber 1827 eröffnete er zusätzlich noch eine Metzgerei. Sein Geld wollte er aber wie Stacher mit dem Verkauf von Liegenschaften machen. Zusammen mit vier andern Geldgebern wagte er den Kauf des zweites Spitalhofs in Steinebrunn für die enorme Summe von 8'400 Gulden. Dieser Grosshof umfasste 24 Hektaren Land, viel zu viel für eine Bauernfamilie. Amsler verkaufte ihn Stück für Stück.

Doch ereilte ihn 1834 der Tod, und seine Frau führte den riesigen Betrieb noch neun Jahre weiter.

Ein Weinkeller wie im Märchen

Im Keller der Traube stapelten sich nach seinem Tod:

  • 6'600 Liter Wein Ottenberger, Landschlachter, Markgräfler, Schaffhauser, alter Gristenbühler, teurer Winzelnberger, Rheintaler, welscher Wein und Champagner
  • 2'700 Liter Most und Saft
  • 420 Liter gebrannte Wasser wie Kirschwasser, Weingeist, Malaga, Cognac und Liquer

Für die Gäste standen 328 Teller und 82 Platten bereit. 160 Weinkaraffen sorgten dafür, dass 276 Gläser gefüllt werden konnten und niemand Durst litt. Für die Nacht standen 10 Einzel- und 5 Doppelzimmer zu Verfügung. Diese Zahlen belegen deutlich die Grösse dieses Unternehmens „Traube“ mit angeschlossener Bäckerei und Metzgerei.

Die Traube – weitum bekannt

So finden wir denn auch in damaligen Reiseführern die Traube in Neukirch bestens erwähnt.

1839 steht Erdkunde der Schweizerischen Eidgenossenschaft

Ein Handbuch für Einheimische und Fremde

Von Gerold Meyer von Knonau, 2. Band S. 463: Unter den vorzüglichen Gasthöfen der Schweiz: Arbon: Traube, Hub: Post, Neukirch im Egnach: Traube, Romanshorn: Schiff

und 1840 J.J. Leuthy: Der Begleiter auf der Reise durch die Schweiz

Neukirch

Kleines Pfarrdorf, in sehr fruchtbarem, lieblichem Gelände, an der Strasse von Arbon nach Weinfelden.

Traube

Besitzerin: Samuel Amsler’s sel. Wittwe

Dieser schöne, längst rühmlich bekannte und viel besuchte Gasthof liegt vorteilhaft an der Kreuzstrasse von Constanz nach St.Gallen, und von Rorschach nach Weinfelden; er ist gut eingerichtet, enthält sehr schöne, aufs Beste ausgestattete und meubilierte Gastzimmer, mit reizender Aussicht über den Boden-See und die Appenzeller-Gebirge. Prompte und äusserst reinliche, gefällige Bedienung sind für diesen Gasthof, der mit geräumiger Stallung und Remise bestens versehen ist, sehr empfehlend.

Neue Besitzer    

Als die Witwe Amsler 1843 die Traube verkaufte, wurde gerade die erste Poststelle im Egnach eröffnet. Der Postläufer bediente sämtliche Ortschaften und darüber hinaus, insgesamt 80 Adressen. Am Sonntag wurde die Post auf dem Kirchenplatz verteilt.        

Witwe Amsler verkaufte die Traube an Martin Jupple von Erdhausen für 16'500 Gulden. Erstmals wurde Bier ausgeschenkt, wofür aber die Wirtetaxe ein Mehrfaches betrug als für Most und Wein. Einziger Bierkonkurrent war der Wirt auf Schloss Gristen. Jupple starb aber bald, und die Traube wechselte wieder den Besitzer. 1857 kaufte Johannes Fischer aus Oberhäusern die Liegenschaft.

Johannes Fischer, Traubenwirt 1857

Fischer führte eine Wirtschaft, eine Bäckerei und eine Metzgerei im Dorfzentrum. Neu richtete er im oberen Saal eine Fabrikation für Packtuch, Leinen und Baumwolle ein, und einen Gastraum baute er zum Spezereiladen um. Die Traube wurde zum Einkaufscenter des 19. Jh. Natürlich stieg auch Fischer in den Liegenschaftenhandel ein. Er wurde ein vermögender Mann und besass 1864 ein Vermögen von 100'000 Franken. Im Vergleich wies der Bürgerfond von Egnach damals 14'000 Franken auf. Dieser clevere Geschäftsmann roch förmlich das Geld und investierte laufend. 1870 stellte er im oberen Saal 6 Stickmaschinen auf, und im Anbau noch zwei. Es war Hochblüte der Stickerei. Bald schon arbeiteten für ihn noch 4 Maschinen ausserhalb des Dorfes.

Jean Fischer

1869 wurde die Bahnstrecke entlang des Sees eröffnet, und der kleine Weiler Egnach erwachte aus dem Schlaf und wurde in wenigen Jahrzehnten das grösste Dorf in der Gemeinde. 1870 steigerte sich das Tempo, und Neukirch eröffnete eine Telegraphenstation. Damit war Fischer täglich über die neuesten Preise in der Stickerei informiert und wusste, ob er verkaufen sollte oder noch nicht. Zu seiner grössten Freude kehrte sein Sohn Jean aus den USA zurück und übernahm 1872 mit 24 Jahren sein Unternehmen.

Sohn Jean Fischer 1848 – 1922

Jean brachte die Traube zu grösster Blüte und häufte ein grosses Vermögen an. Im Alter verkaufte er jedoch fast alle Immobilien. Übrig blieben nur noch die Traube und die Scheune dahinter. Er starb am 2. Oktober 1922 im Alter von 74 Jahren, weitum bekannt, auch durch seinen Witz und Humor. Seine Frau führte den Betrieb weiter, gab ihn aber dann in die Hände der Tochter Fanny.

Gasthaus Traube Neukirch

Der Abstieg

Die Traube hatte ihre Glanzzeiten hinter sich und versank in einen Dämmerzustand. Einzig der Bau des Gemeindehauses brachte noch einmal ein kurzes Aufleuchten, dann wurde sie 1928 wegen unsittlicher Zustände geschlossen. Ein weisses Band verhüllte den Namen „Traube“. Es folgte eine schlimme Zeit mit dauerndem Besitzerwechsel. Im gleichen Jahr pachtete ein Mechaniker Wälchli die Stallungen und richtete eine Autoreparaturwerkstatt ein. Ein neuer Wirt, Wilhelm Bruder mit Frau und Töchter, brachte keinen Aufschwung zustande. Längst fanden sich im Dorf Neukirch über zehn Wirtschaften welche sich auch um die Gäste bemühten. Mechaniker Wälchli starb 1950, und die Traube war nur noch ein Schandfleck im Dorf, der aber nun zum Politikum wurde. In dieser misslichen Lage bestand nämlich die Gefahr, dass ein Spekulant die heruntergekommene Liegenschaft kaufte. Und dann wäre das Dorfzentrum für die Neukircher verloren!

Die Rettung

Hochzeitsgesellschaft vor der Traube Neukirch

Die Bevölkerung schielte zur Raiffeisenbank. Warum griff diese nicht zu? Es gab keine Antwort. Aber was war mit der Elektra Neukirch? Ihre Geschäfte liefen blendend, und ihre Abschlüsse waren steigend. Man warf ihr vor, nichts für das Dorf zu unternehmen. Präsident Züllig preschte vor und lud zu einer ausserordentlichen Versammlung ein. Es erfolgte ein Grossaufmarsch. Züllig: “Es ist nicht bloss Aufgabe der Elektra, für Strom zu sorgen, sondern auch für das Wohl und das Ansehen des Dorfes einzustehen.“

Eine Abstimmung von 68 gegen 14 stimmte dem Kauf der Traube für 100'000 Franken zu. Man war sich einig, dass die Wirtschaft wieder eröffnet werden sollte, und die Autogarage ihren Betrieb wieder aufnahm.

Die Ära Näf

Zur allgemeinen Freude meldet sich ein Ehepaar Näf aus Degersheim. Der Mann war Automechaniker, und seine Frau hatte das Wirtepatent. Das passte ausgezeichnet. Schnell war ein Pachtvertrag unterzeichnet. Alles sah vielversprechend aus. Mit einem Kredit wollte man nur das Nötigste renovieren. Aber es zeigte sich im Laufe eines Jahres, dass die Traube zu einem Fass ohne Boden wurde. Die Kellertreppe musste ersetzt, die Küche komplett umgebaut, die Gaststube und der kleine Saal renoviert werden. Heizungen mussten eingebaut werden, auch in der Werkstatt. Die Terrasse war baufällig und musste abgebrochen oder erneuert werden. Aus geschätzten 100'000 Franken wurden schnell 200'000. So war es für die Elektra eine Erlösung, als Herr Näf offerierte, die Traube zu kaufen. Für 90'000 Franken wechselte sie den Besitzer, und die Elektramänner konnten sich wieder ihren Kilowattproblemen zuwenden. Die Gemeinde aber kaufte ein Bodenstück von Herrn Näf und baute ein Feuerwehrdepot hinter dem Gasthaus, das im Mai 1954 aufgerichtet wurde.

Hotel Traube Neukirch

Ein neues Dorfzentrum

Hans Näf führte die Autowerkstatt weiter und spezialisierte sich auf Lastwagen. Er starb 1970, und die Mutter führte die Werkstatt weiter. Fünf Jahre später übernahm Peter Näf den Betrieb, und bald darauf seine Frau die Wirtschaft. Diese wechselte 1980 an Rosmarie Oertig. Gleichzeitig kaufte die Raiffeisenbank die ganze Liegenschaft. Es begann die grosse Zentrumsüberbauung auf dem Traubenareal. Der Werkstattanbau wurde ganz abgerissen, und das Kerngebäude umgebaut. Im Neubau liess sich die Bank nieder, und ein VOLG wurde eröffnet. Mit dieser Grossüberbauung gewann das Dorf 1996 wieder einen lebendigen Kern mit Wirtschaft, Bank und Lebensmittelladen.

Bilder

Quellen

Beatrice Sendner-Rieger     1996 Gemeindeprotokolle

Albert Vögeli:   Evangelisch Egnach     1727 – 1977

David Kugler: Beschreibung meines Lebensganges. Privatarchiv Hausammann Gristen    1936

Der Begleiter auf der Reise durch die Schweiz, J.J. Leuthy    Zürich 1840 ISBN 3-85865-079-X

Egon Bruderer: Das Egnach und seine Bewohner Bd. 1    1983