Armenhaus Ladreute
Altersheim Ladreute, um 1970
Vom Armenhaus zum Kinderhaus – die Ladreute
Armut ist ein Wort, das uns heute wieder bedrohlich nahe kommt. Sie hatte viele Menschen durch die Jahrtausende im Würgegriff und bedroht heute viele Existenzen. Als der Thurgau 1803 ein selbständiger Kanton wurde, waren die Kassen leer und die Bevölkerung ausgelaugt von den Requisitionen der napoleonischen Truppen. Ganze Bettlerhorden zogen durchs Land.
Für den neuen Staat musste eine ganz neue Verwaltung mit einem Beamtenapparat aufgebaut werden. Was die Armen betraf, so übergab der Kanton diese schwierige und teure Aufgabe der Kirche, die schon seit jeher die Armen unterstützt hatte. In den Gemeinden wurden nur die armen Bürger unterstützt, alle anderen jagte man regelmässig auf den Bettlerjagden weg. Die Zugehörigkeit zu einer Heimatgemeinde wurde also überlebenswichtig. Das Geld für die Unterstützung bezog die Kirche aus einem Armenfond, der von Spenden, Legaten und Hochzeitstaxen geäufnet wurde. Am teuersten war die Bezahlung der Miete für die Hilfsbedürftigen. So entschloss sich die Kirche, die Allerärmsten in einem Haus zu unterbringen.
Damit ist die Idee des Armenhauses, auch „Spital“ genannt, geboren. 1837 wird eines erstmals in Erdhausen erwähnt. Eintreten dürfen Gemeindearme, Kranke, Altersschwache, Gebrechliche, uneheliche Kinder und verwaiste Kinder. Sie leben alle auf engem Raum zusammengepfercht, und das baufällige Haus platzt aus allen Nähten. Der Pfarrer sieht sich bald nach einem anderen Anwesen um. Er findet es in Ladreute, wo das Haus von Johannes Stacher leer steht. 1857 erwirbt es die evangelische Kirchgemeinde für 6'500.- Franken. Die leere Scheune wird abgerissen. In der Person von Jakob Fischer findet sich ein erster Hausvater. Er selber ist auch armengenössig, aber doch rüstig genug, um Ordnung im Haus zu halten. Für den Betrieb des Heimes soll als erstes eine Webstube eingerichtet werden, um die Arbeitsfähigen zu beschäftigen. Weiters soll Fischer einen grossen Gemüsegarten anlegen, um weitere Arbeit für die Selbstversorgung zu beschaffen. Das Haus soll sich finanziell ein Stück weit selbst erhalten. Der Aufenthalt im Heim ist allerdings auch für die Armen nicht gratis; sie zahlen pro Tag 50 Rappen. Für die Krankenpflege wird eine Wärterin angestellt. Fischer wird 1858 durch Susanna Kugler abgelöst, und nach ihr folgen immer Frauen bis zur letzten, Susanne Reichert.
Eine grosse Familie
Im Unterschied zu den heutigen Altersheimen herrscht damals Arbeitspflicht. Der Tag beginnt mit dem Einheizen des Ofens; bis 1960 gibt es keine Zentralheizung. Dafür blühen im Winter die schönsten Eisblumen an den Fenstern. Wer sich waschen will, muss zuerst das Wasser im Garten aus dem 9m tiefen Brunnen heraufziehen und in die einzige Waschschüssel geben. Erst 1910 wird zur Freude aller Bewohner der erste Wasserhahnen installiert.
Ein rüstiger Bewohner zieht jeden Morgen sein Leiterwägeli zur Käserei, wo er frische Milch und etwas Käse für das Frühstück besorgt. Andere Männer hacken Holz, machen Büscheli für den Kachelofen, sammeln die Hühnereier im Keller ein oder räumen den Schnee weg. Im Sommer werden von morgens bis abends die Gemüsebeete und Obstbäume gepflegt. Nach Feierabend gönnen sich die Männer hie und da einen Saft in der nahe liegenden „Blumenau“. Wer zu viel getrunken hat und rumpoltert, landet für mehrere Tage im Arrest. Wer davonlaufen will, bekommt einen Holzklotz ans Bein gebunden und humpelt auf dem Vorplatz umher.
In der Küche sitzt ein Grüpplein Frauen schwatzend am Tisch und rüstet Kartoffeln für die Rösti am Mittag. Am Abend gibt’s wie immer Kartoffeln mit Kaffee, und dann ist es Zeit, in den Schlafsaal zu gehen. Die Matratzen bestehen aus Jutesäcken, die man mit Laub füllt. Kleine Leintücher oder Wolldecken steigern den Komfort. Um die halberfrorenen Füsse zu wärmen, dient eine Bierflasche, gefüllt mit heissem Wasser, die man zwischen die Füsse klemmt. Daher der Name „Bettflasche“ und nicht „Bettbeutel“. Die Armenbücher sprechen eine deutliche Sprache. So will eine Frau ein neues Leintuch, weil das alte zerschlissen ist. Der Armenpfleger gibt ihr aber nur ein halbes, weil eine Hälfte noch zu gebrauchen ist. Sie soll sie zusammen nähen.
Im Jahre 1919 brennt in Wattwil das Armenhaus ab, und mit ihm sterben einige Bewohner jämmerlich in den Flammen. Es wird sehr deutlich, dass dieses Schicksal ebenso der Ladreute mit all den engen, steilen Treppen zuteil werden könnte. So wird eine Nottreppe aussen am Haus angebracht. Ebenso werden Schlauchrohre in jedem Stockwerk verteilt. Eine Blitzschutzanlage soll für weitere Sicherheit sorgen. In der Schweiz wird der Ruf nach sozialer Absicherung immer lauter. Eine Kranken- und Unfallversicherung wird gegründet. Die entscheidende Wende für die Armen wird aber die Einführung der AHV im Jahre 1948. Sie befreit die notleidenden Menschen vor dem Bettelelend, und mit einer kleinen Rente können viele einen Aufenthalt im Heim bezahlen.
Altersheim und Kinderhuus Ladreute
Das diskriminierende Wort „Armenhaus“ soll nun ersetzt werden durch das Wort „Altersheim“. 1967 übernimmt die Gemeinde Egnach die Ladreute. Kost und Logis betragen 2.30 Fr. im Tag. 1988 folgt eine Totalrenovation des Hauses, gekrönt mit einer kleinen Einweihungsfeier. Vieles hat sich verbessert und verändert. Gar nicht glücklich sind aber die Frauen über eine neue Geschirrwaschmaschine. Dadurch fehlt ihnen der tägliche Schwatz beim Abtrocknen in der Küche. Doch die Zeiten von Ladreute sind gezählt. Mit all den verwinkelten Räumen, den engen Treppen, genügt es den modernen Anforderungen eines Altersheims nicht mehr. Es werden vielerorts neue Altersheime eröffnet; im Egnach sind es heute drei. Darin werden sogar Abteilungen für Pflegebedürftige eingerichtet, was in der Ladreute nicht möglich ist. Der Betrieb wird auf Ende 2003 geschlossen. Das Heim steht leer, doch kehrt noch einmal Leben zurück. 2004 wird die Stiftung Egnach erweitert, und die Bewohner ziehen für ein paar Monate in das altehrwürdige Haus. Im August 2005 eröffnet es als Kinderhaus die Pforten für Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen, welche fremdplatziert werden müssen. Aber auch diese Zeit endet 2019, und das Haus wird an Private verkauft.
Rolf Blust auf Gristen
Bilder/Fotos
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Altersheim Ladreute, um 1990
Literatur
Protokolle Kirchenarchiv Neukirch
Protokolle Gemeinderat Neukirch
Rolf Blust: Ladreute 1857 - 1988